"Gentlemen, this
is no humbug!"
Mit diesen Worten beendete am 16.10.1846 der Chefchirurg des Bostoner
Massachusetts General Hospital, Professor John Collins Warren
(1778-1856), die erste öffentliche, unter Schwefelätherbetäubung
durchgeführte Operation. Dieser Tag gilt in der medizinischen
Fachwelt als Geburtsstunde des Narkosezeitalters.
"Süßes Vitriol" benannte im 13. Jahrhundert
ein spanischer Gelehrter die klare Flüssigkeit, die er aus
Schwefelsäure hergestellt hatte.
Zwei Jahrhunderte später beobachtete Paracelsus (1493 - 1541)
die schlafinduzierende Wirkung dieser Substanz bei Tieren.
Der deutsche Chemiker Frobenius nannte die Flüssigkeit aufgrund
ihrer physikalischen Eigenschaften "Äther".
1818 dokumentierte der englische Naturforscher Michael Faraday (1791-1867)
nach eigenen Beobachtungen die narkotische Eigenschaft des Äthers.
Jedoch erging es dem ehemaligen Schüler von Humphrey Davy (1778-1829),
der schon 1800 die schmerzausschaltende Wirkung des Stickoxydul
beobachtet und beschrieben hatte, wie seinem Meister. Die Hinweise
auf die betäubenden Eigenschaften von Äther und Lachgas
wurden von der medizinischen Fachwelt mißachtet. Beide Substanzen
blieben Mittel zum Zweck als Rauschmittel für "illustere"
Partys.
Als im Januar 1842 der Chirurg Crawford William
Long (1815 - 1878) eine solche Party besuchte, beobachtete er,
wie sich Teilnehmer der Gesellschaft verletzten - dies jedoch
ohne Anzeichen von Schmerz.
Selbstversuche von Long bestätigten seine Beobachtungen.
Am 30. März 1842 entfernte er bei einem Patienten im Ätherrausch
einen Nackentumor - schmerzfrei.
Dr. Long beging leider einen großen Fehler: Der Fachwelt
verschwieg er seine Erfolge über inzwischen mehrere erfolgreiche
Äthernarkosen. So mußte er später auf Ruhm, als
Pionier der Ätheranästhesie zu gelten, verzichten.
In Boston praktizierte der hervorragende Zahnprothetiker William
Thomas Green Morton (1819 - 1868).
Am 11. Dezember 1844 hatte er als Kollege von Horace Wells (1815
- 1848) der fehlgeschlagenen Demonstration der Lachgasbetäubung
am Massachusetts General Hospital beigewohnt. Seither war er auf
der Suche nach einem besser geeigneten Betäubungsmittel zur
Zahnextraktion. Die Suche nach der Lösung dieses Problems
führte ihn zu seinem ehemaligen Lehrer Professor Charles
Jackson (1805 - 1880), der ihm - gegründet auf die Hinweise
von Faraday - Schwefeläther empfahl.
Morton probierte die Wirkung des Äthers zunächst an
Tieren erfolgreich aus und extrahierte am 30. September 1846 bei
einem Patienten schmerzfrei einen vereiterten Zahn.
Ermutigt und begeistert von seinem Erfolg und der damit verbundenen
Aussicht auf bessere finanzielle Zeiten, bewarb er sich bei Professor
Warren zur Demonstration seines Betäubungsverfahrens. Warren
hatte derzeit Wells die Möglichkeit eingeräumt, die
betäubenden Eigenschaften des Stickoxydul zu demonstrieren,
was jedoch - wie schon bemerkt - in einem Desaster endete.
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Morton bereitete sich gründlich
vor. Sein "Narkoseapparat" bestand aus einem Glaskolben
mit zwei rohrähnlichen Ansätzen. Über einen dieser
Ansätze wurde der im Inneren der Kugel liegende Schwamm mit
Äther getränkt. Am anderen Ansatz befand sich ein Inhalationsschlauch
mit einem einfachen Ventil zur Regulation der Ein- und Ausatmung.
Massachusetts General Hospital, 16. Oktober 1846, 10.00 Uhr:
Gerade noch rechtzeitig erscheint Morton zum festgesetzten Termin
im Operationstheater. Ein neues Atemventil für den Apparat
war kurz zuvor fertig geworden. Die Operationsglocken hatten bereits
den Beginn der Operation angekündigt.
Das sie ein neues medizinisches Zeitalter einläuteten, hat
zu diesem Zeitpunkt niemand gewußt.
Die Stimmung war angespannt, der Ausgang der Ätherdemonstration
ungewiß. Man erinnerte sich noch zu gut an Wells. Morton
beruhigte den vor Angst zitternden 20jährigen Patienten und
ließ ihn den Dunst aus dem Apparat atmen. Der Patient sank
in Schlaf. Das Messer durchtrennte die Haut über dem zu entfernenden
Nackentumor. Der Patient jedoch schlief ohne deutliche Schmerzensregung
weiter. Das war neu in der Medizin ! Der Schmerz hat sich dem
Ätherdunst beugen müssen.
Morton wird nach erfolgreicher Narkose bedrängt, den Namen
der betäubenden Substanz preiszugeben. Aber aus pekuniären
Gründen nennt er das Narkosemittel "Letheon" und
versucht durch Zusatz von anderen Duftstoffen den typischen Geruch
von Äther zu verschleiern. Erst unter Druck gibt er den Namen
bekannt.
Die Nachricht über die Möglichkeit der schmerzfreien
Operation verbreitete sich rasch. Über England und Frankreich
gelangte die Kunde schließlich nach Deutschland. Der Erlanger
Chirurg Professor Heyfelder (1798-1869) war einer der ersten erfolgreichen
Anwender von Schwefeläther in Deutschland.
Im Laufe der Zeit wurden verschiedene Gerätschaften zur Applikation
des Äthers ausprobiert.
Die einfachste und bekannteste Methode ist die mit Gasbezug überspannte
und an die Gesichtskonturen angepaßte Drahtkonstruktion
des Berliner Chirurgen Curt Schimmelbusch
(1860 - 1895), deren Gebrauch in Deutschland schließlich
der Chirurg Oskar Witzel (1856 - 1926) durchsetzte. Vor über
150 Jahren nach erster erfolgreicher Anwendung des Schwefeläthers
begann also die Entwicklung einer neuen medizinischen Fachrichtung
- der Anästhesiologie -, deren Entwicklungsende noch lange
nicht abzusehen ist.
Intensivmedizin, Rettungsmedizin und Schmerztherapie sind heute
Äste der Anästhesie. Zweige davon reichen in fast alle
Fachgebiete der Medizin, um die Früchte der Erfolge mit allen
zu teilen und den Patienten zu dienen.
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